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Titel
Hallers Netz. Ein europäischer Gelehrtenbriefwechsel zur Zeit der Aufklärung


Herausgeber
Stuber, Martin; Hächler, Stefan; Lienhard, Luc
Reihe
Studia Halleriana, Band IX
Erschienen
Basel 2005: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
592 S.
Preis
€ 68,50
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Emil Erne

Rechtzeitig zum 300. Geburtstag des Berner Gelehrten Albrecht von Haller (1708–1777) publiziert die Gruppe um den Medizinhistoriker Prof. Urs Boschung die Ergebnisse ihres langjährigen Forschungsprojekts, auf denen die Jubiläumsfeierlichkeiten des Jahres 2008 nun aufbauen können. Das Berner Haller-Projekt wurde neben dem Institut für Medizingeschichte der Universität Bern auch von der Burgerbibliothek Bern und ihrem Direktor J. Harald Wäber mitgetragen, wo Hallers Nachlass aufbewahrt wird. Dessen Kernstück ist der zu grossen Teilen erhaltene Briefwechsel, den Haller mit Gelehrten aus ganz Europa geführt hatte. Nachdem in der gleichen, von der Albrecht-von-Haller-Stiftung der Burgergemeinde Bern herausgegebenen Reihe «Studia Halleriana» aufgrund einer Datenbank 2002 das «Repertorium zu Albrecht von Hallers Korrespondenz 1724–1777» und 2004 die «Bibliographia Halleriana» erschienen sind, erfolgt nun mit dem vorliegenden Band die Auswertung des umfangreichen Materials. Hallers Briefwechsel wird hier erstmals in seiner Funktion als weit gespanntes Kommunikationsnetz im Europa der Aufklärung dargestellt. Entsprechend den mannigfaltigen Interessen des Universalgelehrten musste das Projektteam interdisziplinär vorgehen: Es umfasste neben einer Historikerin und zwei Historikern, einem Medizinhistoriker und einem Kunsthistoriker auch einen Altphilologen, einen Botaniker und eine Germanistin.

Der erste Teil des grossformatigen Werkes enthält in zehn Kapiteln auf 216 Seiten die Gesamtanalyse von Hallers Korrespondenznetz. Martin Stuber, Stefan Hächler und Hubert Steinke gehen von der Bedeutung des historischen Briefs und des Gelehrtenbriefwechsels für die Wissenschaftsgeschichte und die Aufklärungsforschung im Allgemeinen aus und ziehen andere wichtige Korrespondenznetze zum Vergleich bei, um sich dann eingehend mit Entstehung, Ordnung und Überlieferung des 16 981 Einheiten enthaltenden Hallerschen Briefkorpus zu befassen. Infolge der Lücken in der Überlieferung stehen heute 13 237 Briefen an Haller nur 3744 Briefe von Haller gegenüber. Die Autoren untersuchen im Folgenden in erster Linie die von 1724 bis 1778 an Haller gerichteten Briefe – die Kunde von seinem Tod war anfangs 1778 offenbar noch nicht bis Estland gedrungen –, und werten sie nach ihrer zeitlichen Abfolge, der geografi schen Verbreitung der Absendeorte und der Art der Erstbegegnung zwischen den Korrespondenten aus. Besonders aufschlussreich sind Herkunft und soziale Stellung der 1138 Korrespondenten und 50 Korrespondentinnen sowie die von ihnen verwendete Briefsprache und die behandelten Themen.

Viele Korrespondenten Hallers waren – wie er selbst auch – an gelehrten Institutionen (Universitäten, Sozietäten, Zeitschriften) beteiligt, die zusammen mit den Briefwechseln die zentralen Medien des wissenschaftlichen Kommunikationssystems der frühen Neuzeit ausmachten. Die Autoren unterscheiden in Hallers Korrespondentennetz verschiedene «Teilnetze», die sich personell, räumlich und inhaltlich voneinander abheben. Den für bernische Leserinnen und Leser besonders interessanten Bezug zur Stadtrepublik Bern haben Stuber und Hächler bereits im Jahrgang 62 (2000), S. 125–190, dieser Zeitschrift ausführlich dargestellt. Auch praktische Fragen der Kommunikation in der damaligen Zeit kommen zur Sprache wie der Transport von Briefen, die Portogebühren und der Austausch von Büchern, Pflanzen und Kuriositäten aller Art. Die abschliessende Synthese beleuchtet noch einmal Hallers Netz, das von der Zahl der Beteiligten und der vorhandenen Briefe wie auch von der gesamteuropäischen Dimension her zu den bedeutendsten gelehrten Kommunikationssystemen gehört. Die Netzperspektive der vorliegenden Untersuchung ist allerdings insofern nicht vollständig eingelöst, als sich die Autoren, wie sie selbst einräumen, weitgehend auf die Beziehungen zu Haller konzentrieren und Querverbindungen im Beziehungsgeflecht teilweise wegen der schwierigen Quellenlage zukünftigen Arbeiten überlassen.

Der 320 Seiten starke zweite Teil enthält neun Fallstudien, die beispielhaft die Quellen nach einem je eigenen Ansatz auswerten. Urs Boschung geht Hallers Krankheiten nach, die den Gelehrten zeit seines Lebens begleiteten – sowohl als körperliche Beschwerden wie auch als Studienobjekte, die im Netz diskutiert und therapiert werden. Die bekanntere Rolle Hallers als berühmter Arzt schildert Stefan Hächler in seinem Beitrag, in welchem er die Fernkonsultationen durch Patienten und Arztkollegen ins Zentrum rückt. Um Krankheiten geht es vereinzelt auch im Briefkorpus, das aus Hallers Korrespondenz mit Frauen besteht, unter anderem mit der berühmten Berner Aufklärerin Julie Bondeli, die hier eigenartigerweise nur als Patientin erscheint. Barbara Braun-Buchers Studie über den geschlechterspezifi schen Aspekt des Hallerschen Briefwechsels, dessen Überlieferung im Fall der Korrespondentinnen sehr lückenhaft ist, zeigt den Gelehrten als einen auch am alltäglichen Leben stark Anteil nehmenden Menschen. Zwei Beiträge befassen sich mit der sprachlichen Seite des Briefwechsels, und zwar der eine von David Krebs mit dem Latein als Medium wissenschaftlicher Kommunikation und der andere von Claudia Profos mit dem Gebrauch des Deutschen, der mit dem Phänomen des unvermittelten Sprachwechsels innerhalb einer Korrespondenz oder gar eines einzelnen Briefes gekoppelt war. Ohne sein Kommunikationsnetz hätte Haller seine Sammlung von Pflanzen und die Informationen für seine botanischen Werke nicht zusammentragen können, wie Luc Lienhard ausführt. Rund ein Viertel seiner Korrespondenzen betreffen botanische Themen. Häufig wurden getrocknete oder lebende Pfl anzen sowie Knollen und Samen mitgeschickt. Nachdem schon in diesem Beitrag auf die Oppositionsstellung Hallers gegenüber Carl von Linné hingewiesen wird, erweitert Hubert Steinke den Blickwinkel generell auf die Rolle des Briefwechsels in wissenschaftlichen Kontroversen. Haller war ab 1743 andauernd in Dispute verwickelt und spannte seine Korrespondenten für die Informationsbeschaffung, die Bildung von Allianzen und allenfalls auch für die Vermittlung zwischen den Parteien ein. Mit zwei auf Bern bezogenen Abhandlungen beschliesst Martin Stuber die Fallstudien: Zunächst folgt aus kommunikationsgeschichtlicher Perspektive die Geschichte der unglücklichen Verlobung und dann standesgemässen Verheiratung von Hallers ältester Tochter Marianne, die sich zwischen Liebesgefühlen und Familieninteressen entscheiden musste. Der letzte Beitrag verweist über Hallers Netz hinaus auf ein anderes Kommunikationsnetz, mit dem Haller in vielfacher Verbindung stand: die europäische Sozietätenbewegung. Als eine ihrer prominentesten Vertreterinnen steht hier die Ökonomische Gesellschaft Bern im Zentrum, die Haller lange Jahre präsidierte und mit deren Mitgliedern er intensiv über die ökonomisch-patriotischen Kernthemen korrespondierte.

Wie einst Haller seine bernischen Zeitgenossen, so überragt dieser Band das
durchschnittliche Format wissenschaftlicher Publikationen. Für die Unhandlichkeit wird man durch die Grosszügigkeit des Layouts entschädigt, das die Aufnahme verschiedenartiger Bildelemente erlaubt. Die Vielzahl der durchgehend schwarzweiss wiedergegebenen Illustrationen ergibt eine ganze Ikonografie des 18. Jahrhunderts, worunter zwei Dutzend Mal Haller selbst erscheint. Lobend hervorzuheben sind die anschaulichen Grafiken und Karten sowie die informativen Legenden zu sämtlichen Abbildungen. Die präzisen Nachweise in den Anmerkungen und die ausführliche Bibliografie belegen die umfassende Rezeption der Spezialliteratur zum 18. Jahrhundert. Bedauerlich ist einzig, dass das Register auf Personen in den Bildlegenden sowie auf Orte und Sachen gänzlich verzichtet.

Inhaltlich schafft das Buch zusammen mit den bereits erschienenen Bänden die Grundlage für jede weitere Beschäftigung mit Albrecht von Haller und seiner Zeit. Die Autorinnen und Autoren haben ein riesiges Material mit modernen Methoden systematisch aufgearbeitet und machen es nun einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich. Sie haben ihren kommunikationstheoretischen Ansatz nicht nur auf ihren Gegenstand, sondern konsequent auch auf das Ergebnis ihrer Arbeit angewandt: Das Buch ist verständlich geschrieben, klar gegliedert und überlegt gestaltet – verbindet also das Nützliche mit dem Angenehmen. Entsprechend Albrecht von Hallers Leistungen auf den Gebieten der Medizin, der Botanik, der Literatur, der Agrarökonomie und weiterer Disziplinen bietet der nun vorbildlich erschlossene Briefwechsel einen substanziellen Zugang zur gelehrten Welt des 18. Jahrhunderts.

Zitierweise:
Emil Erne: Rezension zu: Stuber, Martin; Hächler, Stefan; Lienhard, Luc (Hrsg.): Hallers Netz. Ein europäischer Gelehrtenbriefwechsel zur Zeit der Aufklärung, Basel, Schwabe, 2005 (Studia Halleriana, Band IX), X, 592 S., ill. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 68, Nr. 4, Bern 2006, S. 253ff.

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 68, Nr. 4, Bern 2006, S. 253ff.

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